Quelle: Unsplash (Guillaume Bolduc)
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Der Versorgungskollaps wird immer wahrscheinlicher
22.10.21
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Der Versorgungskollaps wird immer wahrscheinlicher
22.10.2021

Der Versorgungskollaps wird immer wahrscheinlicher

Lieferengpässe halten zurzeit den Welthandel auf Trab. Weihnachtsgeschenke sollte man deshalb baldmöglichst organisieren.

Mitte Oktober zieren wie jedes Jahr herbstliche, oft halloweeninspirierte Schaufenster die Fussgängerzonen der Schweizer Städte. Hie und da lassen sich – gefühlt früher als je zuvor – die ersten Weihnachtsartikel in den Supermarktregalen erkennen. Während man sich beim Anblick des Lebkuchens, der bis zum Weihnachtsfest eh sein Haltbarkeitsdatum überschritten haben wird, etwas genervt an den Kopf fasst, macht es dieses Jahr tatsächlich Sinn, vorauszuplanen.

Wer nämlich seinem Kind mit einer PlayStation an Heiligabend eine Freude machen will, sollte sich schleunigst auf die Suche nach der Spielkonsole machen. Consumer Electronics dürften im Dezember nämlich Mangelware sein. Ob Fernseher, Smartphone oder Drucker – die Nachfrage übersteigt zurzeit das Angebot. Laptops von HP wurden seit Juli durchschnittlich um 6% teurer, manche Grafikkarten von Nvidia verdoppelten sich gar im Preis. Gemäss Bloomberg soll Apple die Produktion der neuen iPhone Modelle um rund zehn Millionen Einheiten gedrosselt haben müssen. Auch die Automobilbranche klagt über grosse Schwierigkeiten, an genügend Halbleiterchips zu kommen.

Grund für diese problematischen Entwicklungen sind massive Engpässe in den Wertschöpfungs- und Lieferketten. Zur Veranschaulichung: Derzeit ankern vor Los Angeles rund 70 Frachtschiffe – ein neuer Rekord. Sie warten darauf, im Hafen der kalifornischen Metropole, wo rund 40% der US-Importe ins Land gelangen, anzulegen und endlich entladen zu dürfen. Walmart, UPS und FedEx arbeiten gemäss präsidentiellem Dekret rund um die Uhr, doch die Lage scheint sich nur gemächlich zu bessern. Auch in Europa machen sich diese Engpässe bemerkbar. Die Financial Times berichtet von einem Industrieoutput unter prä-Corona-Niveau. Erschwerend kommt der Mangel an Lastwagenchauffeuren hinzu. In der EU fehlen rund 400’000 Fahrer, allein in Deutschland sind es 80’000.

Die Corona-Pandemie hat hitzige Debatten rund um die globalen Liefernetzwerke entfacht. Eine international eng vernetzte Geschäftswelt, die stärker denn je von hochoptimierten ‘just-in-time’ Wertschöpfungsketten geprägt ist, kann durch plötzliche Schocks unter grossen Druck geraten.

Doch nicht erst seitdem vor knapp zwei Jahren das Coronavirus ausgebrochen ist, blicken Experten mit Unbehagen auf die globalen Lieferketten. Die wachsende politische Unsicherheit seit der Wirtschaftskrise 2008/09 sowie den deutlich werdenden Symptomen des Klimawandels bereiten den Fachleuten Sorgen und führen zunehmend zu Spannungen an Flug- und Frachthäfen.

In den 1970er Jahren entwickelte das Managementteam des japanischen Autoherstellers Toyota den konzeptionellen Rahmen für moderne ‘just-in-time’ Lieferketten. Diese haben zum Ziel, die Wertschöpfungskette eines Industriebetriebs so schlank und effizient wie möglich zu gestalten. Im Fokus steht dabei der Informationsaustausch zwischen Produzenten und Abnehmern (‘upstream-downstream’ Koordination), womit Güter sofort weiterverarbeitet oder weiterverkauft, anstatt länger gelagert werden sollen. Das Konzept beruht darauf, dass der Produzent erst mit der Herstellung beginnt, sobald der ‘downstream’ Kunde seine Bestellung aufgibt. In ruhigen Zeiten kann so die Wertschöpfungseffizienz merklich erhöht werden, indem nur das produziert wird, was der Kunde für seine Wertschöpfungsstufe benötigt und so Lagerhaltungskosten minimiert werden. Am besten funktioniert ‘just-in-time’ Produktion, wenn Produzent und Kunde geographisch günstig gelegen sind (d.h. der Transport rasch vonstattengeht) und die Vorlaufzeiten kurz sind. So erhält der Kunde, die benötigte Ware schnellstmöglich. Anderenfalls kann es passieren, dass sich das Umfeld des Kunden bis zum Erhalt der Ware bereits wieder dahingehend verändert hat, dass die bestellte Ware unzureichend ist und die Bestellung revidiert werden muss.

Problematisch wird es, wenn durch unerwartet und mehrheitlich unvorhersehbare Schocks, sogenannte Black Swan Events, wie etwa Fabrikschliessungen während der Corona-Pandemie, der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs oder die Blockade des Suez Kanal durch die «Ever Given» Sand ins Getriebe gerät. Wenn sich nämlich Produzent und Kunde diesen plötzlichen Veränderungen nicht anpassen und rasch kooperieren, werden unnötige Vorräte aufgebaut oder aber die Kundennachfrage kann nicht bedient werden. Beides kann zu signifikant höheren operativen Kosten führen. In unsicheren Zeiten ist das Konzept also fehleranfällig und mit hohen Kosten verbunden.

Tatsächlich liefert das ‘just-in-time’ Konzept aber mittelfristig gleich die Lösung für das eigens verursachte Problem, indem die involvierten Unternehmen rasch Anpassungen in der Lieferkette vornehmen können. In traditionellen Liefernetzwerken, die solche Schocks zwar durch vorhandene Vorräte zunächst abfedern können, ist der upstream-downstream Informationsaustausch in aller Regel stark limitiert. Somit kann auf Schocks nicht schnell genug reagiert werden. Der Produktionsoutput ist starr.

Die Logistikbranche geht davon aus, dass die Situation im Schiffsverkehr noch bis Mitte nächsten Jahres angespannt bleiben wird. Werden sich die globalen Lieferketten in einer post-Corona-Welt aber nachhaltig verändern? Frank Pisch von der Universität St. Gallen ist zum Schluss gekommen, dass die Logistikbranche sich bewusst werden wird, dass unvorhersehbare Schocks in der heutigen globalisierten Welt immer wahrscheinlicher und deren Konsequenzen immer schwerwiegender werden. Weiter glaubt Pisch, dass auch ‘just-in-time’ Liefernetzwerke ihre Vorräte leicht erhöhen werden, um solche Schocks besser abzufedern. Tatsächlich werden die Kosten dafür aufgrund des schnellen Informationsaustausches dabei tiefer sein als in traditionellen Wertschöpfungssystemen. ‘Just-in-time’ wird im Welthandel also weiterhin zentral sein.

Trotzdem findet Pisch Hinweise dafür, dass eine Regionalisierung nicht unwahrscheinlich ist. Viele Unternehmen dürften die Stabilität und Belastbarkeit ihrer Zulieferer während den letzten Monaten hinterfragt haben. Der Professor für Volkswirtschaft sieht diese Entwicklung aber nicht nur in der westlichen Welt. Auch chinesische Liefernetzwerke dürften sich stärker lokal verankern. Schliesslich sieht Pisch grössere Unternehmen aufgrund von Koordinationsvorteilen besser positioniert, wenn es zu Lieferengpässen kommt.

Mittel- und langfristig wird es also zu Veränderungen im internationalen Handel kommen. Aufgrund der hohen Komplexität des Systems wird dies aber nur schleppend passieren. Wer die Weihnachtsbescherung nicht ins neue Jahr verschieben will, sollte also keine Zeit verstreichen lassen und die Zügel selbst in die Hand nehmen.

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